Die Nachkriegszeit
Nach dem Kriegsende 1945 gibt es im kirchlichen Bereich natürlich eine Fülle von Problemen. Mit der Zerschlagung des nationalsozialistischen Regimes ist auch der massive Kontrollanspruch des Staates auf die kirchliche Verwaltung beendet. Die Kirche darf sich wieder eigenständige und unabhängige Verwaltungsgremien schaffen, was sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit als äußerst schwierig erweist. Im August 1945 beschließt die Kirchenleitung der Evangelischen Kirche der altpreussischen Union unter anderem:
„Die Amtsdauer der Gemeindekirchenräte (Gemeindekirchenausschüsse, Bevollmächtigten) endet in der Stadt Berlin mit dem 30. November 1945, in dem übrigen Gebiet der Kirchenprovinz Brandenburg westlich von der Oder und Lausitzer Neisse mit dem 31. Januar 1946.
Die ausscheidenden Ältesten bleiben bis zur Einführung der Nachfolger im Amt.“ 29
Das heißt ganz konkret, dass in der Zeit von April bis November 1945 eine Art Notverwaltung durchgeführt werden muss.
Pfarrer Albrecht Kaiser, seit vielen Jahren Vorsitzender des Gemeindekirchenrates Wilmersdorf, legt Mitte November 1945 einen Rechenschaftsbericht der Geschäftsführung vor. Darin können wir lesen:
„Die Geschäftsführung ist bis Ende April 1945 entsprechend der Zeitlage und den Kriegsverhältnissen in Ordnung durchgeführt worden, allerdings in den letzten Kriegsjahren aufgrund von Notverordnungen der Kirchenbehörden von dem verbliebenen Rest der in Wilmersdorf anwesenden Pfarrer und Ältesten.
Die Geschäftsführung des Rechnungsjahres 1944 war auch durch die Unruhe der Kriegszeit sehr erschwert. Seit dem Zusammenbruch ist auch die kirchliche Ordnung schwer erschüttert worden. Die bisherigen kirchlichen Behörden bestehen wohl rechtlich noch, waren aber wenig aktionsfähig und wurden durch eine Aktion der Leitung der Bekennenden Kirche wirkungsfähig erhalten. Dementsprechend war auch die Situation unseres Gemeindekirchenrates, der nicht ohne politische Einflüsse gebildet und erhalten war. Andererseits war es für den Vorsitzenden dringend notwendig, irgendwie die Geschäftsführung vorläufig weiterzuführen. Ich nahm zuerst an, daß analog der Umgestaltung des Evangelischen Konsistoriums auch eine Umgestaltung des Gemeindekirchenrates, der nur noch einen letzten Rest von Mitgliedern umfaßte, unbedingt notwendig sei. (…)
Infolgedessen ist der heute versammelte Gemeindekirchenrat noch gesetzlich gültig. Ich bin ihm deshalb Rechenschaft schuldig über die Geschäftsführung seit dem 1. April 1945, die ich nach bestem Wissen und Gewissen zu führen mich bemüht habe, bitte aber nun nachträglich um Ihre Zustimmung und meine Entlastung.
Es kam zunächst darauf an, das Verwaltungsgebäude von der Besetzung und Verwüstung durch die Russen wieder zu säubern und in Ordnung zu bringen. Durch den fleißigen Einsatz aller Angestellten wurde das in kurzer Zeit erreicht. Daraufhin erfolgte wieder die Aufnahme der eigentlichen Arbeit und die Zusammenhaltung des Personals. (…)
Die Instandsetzungen des schwer beschädigten Gemeindehauses in Halensee hat bis jetzt das städtische Bauamt übernommen und bezahlt. (...)
Weiterhin werden Zerstörungsberichte über die Wilmersdorfer Kirchen verfasst, die Innere Mission - sie war von einer Naziorganisation übernommen worden – wird wieder eingerichtet und die Organisation des Religionsunterrichtes unter kirchlicher Obhut neu aufgebaut. Über all diese Bereiche schreibt Pfarrer Kaiser abschließend:
„Beim Rückblick auf diese Verwaltung seit dem 1. April 1945 glaube ich, dem Gemeindekirchenrat versichern zu dürfen, daß die Verwaltung in Ordnung ist und daß die im Kirchendienst verbliebenen Beamten und Angestellten (zum größten Teil) ihre volle Pflicht getan haben.“
Zu der beschlossenen Neuwahl im November 1945 kommt es in Wilmersdorf nicht mehr, denn bereits 1946 werden die Wilmersdorfer Kirchengemeinden in vier selbständige Kirchengemeinden mit eigenem Gemeindekirchenrat aufgeteilt.
Wie schon erwähnt, ist die Kirche bereits seit 1943 nicht mehr für Gottesdienste benutzbar. Und so sollte es auch noch mehr als ein Jahrzehnt lang bleiben. Die Glocken jedoch sind funktionstüchtig und so läuten sie weiterhin zum Gottesdienst, der zuerst im Martin-Luther-Zimmer und im Hausflur und seit 1946 im inzwischen wieder hergerichteten großen Saal stattfindet. Der Hochmeistersaal ist in den ersten Nachkriegsjahren einer der wenigen benutzbaren Veranstaltungsräume in Berlin und so findet nicht nur der Gottesdienst darin statt, sondern auch eine Vielzahl anderer Veranstaltungen, insbesondere Konzerte.
Pfarrer Heinz Jensch, der als Nachfolger des 1943 verstorbenen Max Ulrich von 1946 bis 1978 Pfarrer an der Hochmeisterkirche war, erinnert sich an diese Zeit:
„Nach Kriegsende wurden die Gemeinden aufgerufen, Wärmehallen wegen des Mangels an Heizmaterial einzurichten. Unser damaliger Hauswart, Herr Kolberg, seine Witwe gehört noch heute zur Gemeinde, baute deshalb in der Mitte des damaligen Sitzungssaales; jetzt Paul-Gerhardt-Zimmer, aus den im Übermaß vorhandenen Trümmersteinen und anderen Materialien einen Ofen, der nicht schön, aber praktisch war. Den Rauchabzug bildete ein schweres eisernes Rohr, das mit eisernen Drähten fest an der Decke befestigt war und zum Fenster hinausragte. Die zumeist älteren Besucher und Gemeindemitglieder kamen am Vormittag mit ihren Essgefäßen, hielten sie bis zum Mittag auf diesem Ofen warm, blieben selbst bis zum Dunkelwerden. Daß die Luft darin nun nicht immer die beste war, ist ja selbstverständlich. In diesem einzigen warmen Raum mußten wir Pfarrer für längere Zeit auch den Konfirmandenunterricht halten. Die Besucher der Wärmehalle hörten mit Interesse zu, wurden in das Gespräch mit den Konfirmanden zuweilen einbezogen.
Und noch zwei persönliche Erinnerungen: Es war wohl 1947. Ich hatte am 2. Adventssonntag im Saal den Nachmittagsgottesdienst um 18 Uhr. Während der Predigt über das Evangelium Matthäus 21, in dem es zum Schluß heißt: ‚Hütet euch, daß eure Herzen nicht beschwert werden ... von Sorgen der Natur...‘ stahl mir jemand aus dem Paul-Gerhardt-Zimmer nebenan meinen Pappkoffer, den ich für meinen Talar brauchte. Er war alt und schon arg mitgenommen, aber mangels eines besseren wertvoll. Unbeeindruckt von der Predigt, die er durch die Verbindungstür mithören mußte, nahm dieser ‚Jemand‘ den Koffer mit allem, was darin war, dicker Schal, Handschuhe, Hut usw. Den Mantel hatte ich zu meinem Glück an, es war ja Winter und auch im Saal empfindlich kalt. Mein Weg nach Hause - wir wohnten damals ja noch nicht im noch zerstörten Gemeindehaus - war mit den Büchern und dem Talar unter dem Arm, ohne Hut und Schal an dem kalten Winterabend nur im Laufschritt zu überwinden.
Einige Zeit später wurde unser Saal nach Fertigstellung des Daches durch zwei riesenhafte Öfen - etwa in der Größe einer Litfaßsäule - beheizt. Der Ofen am Eingang war eingezäunt, damit sich niemand verbrannte. Der zweite Ofen stand neben der Bühne hinter dem Kanzelpult. Als an einem Sonntag der Kindergottesdienst gerade zu Ende ging, erschienen plötzlich am Eingang Pfarrer Zunkel und Herr Bradtke, der damalige Kirchwart, und eilten nach vorn. Hinter mir und dem Kanzelpult stieg ein kleines Wölkchen hoch. Durch die Hitze des Riesenofens begannen die Dielen zu qualmen. Ein Eimer Wasser machte dem Spuk schnell ein Ende.“ 30
Es sollte noch einige Jahre dauern, bis das Gemeindehaus wieder vollständig benutzbar wird. 1951 feiert die Gemeinde Richtfest und im Sommer 1952 können wieder alle Wohnungen bezogen werden. Erst nach der Wiederherstellung des Gemeindehauses wird der Wiederaufbau der Kirche in Angriff genommen.
32. Beilage zu den Protokollbüchern des GKR Wilmersdorf: Bericht des Vorsitzenden über die Geschäftsführung vom 1. April 1945 bis zum Tage der Sitzung - 12. November 1945, Archiv Auenkirche, Protokollbücher des GKR.
33. Bericht von Pfarrer Jensch über die Nachkriegszeit In: Rund um die Hochmeisterkirche Sonderausgabe zum 75jährigen Jubiläum 1985.